Selbstdarstellung:
Als ich 1933 zum ersten Mal einige Wochen
in China verbrachte, erwarb ich ein Büchlein über Chinesische Musik,
verfasst vom bekannten Sinologen Richard Wilhelm. Dieser Schrift
entnehme ich folgende, vor mehr als 2000 Jahren entstandene Sprüche:
Die Herrscher dieser Welt halten meistens Perlen und Edelsteine, Lanzen
und Schwerter für ihr Kostbarstes, aber je mehr sie davon haben, desto
mehr murrt das Volk, desto mehr kommt das Land in Gefahr, und desto mehr
werden sie selbst in den Untergang verwickelt. Diese Zustände führen in
Wirklichkeit. zum Verlust jener Kostbarkeiten. Die Musik eines
verkehrten Geschlechts hat dieselben Wirkungen. Wenn Pauken und Trommeln
erdröhnen wie Donner, wenn Becken und Klingsteine erklingen wie der
Blitz, wenn Flöten und Geigen, Tanzen und Singen lärmend erdröhnen, so
ist das wohl geeignet, die Nerven zu erschüttern, die Sinne zu erregen
und das Leben überschäumen zu lassen.
Aber eine Musik, die mit diesen Mitteln wirkt, macht nicht heiter.
Darum: je rauschender die Musik, desto melancholischer werden die
Menschen, desto gefährlicher wird das Land, desto mehr sinkt der Fürst.
Auf diese Weise geht auch das Wesen der Musik verloren. ...
Die Töne entstehen im Herzen des Menschen. . . . Nun aber beeinflussen
die Außendinge den Menschen unaufhörlich. . . .
Wenn die Welt in Frieden ist, wenn alle Dinge in Ruhe sind . . . , dann
lässt sich die Musik vollenden. Die vollendete Musik hat ihre Wirkungen.
Wenn die Begierden und Leidenschaften nicht auf falschen Bahnen gehen,
dann lässt sich die Musik vervollkommnen. Die vollkommene Musik hat ihre
Ursache. Sie entsteht aus dem Gleichgewicht. Das Gleichgewicht entsteht
aus dem Rechten, das Rechte entsteht aus dem Sinn der Welt. Darum vermag
man nur mit einem Menschen, der den Weltsinn erkannt hat, über die Musik
zu reden.
Dass die Außendinge den Menschen, namentlich den Komponisten,
beeinflussen, stimmt heute ebenso wie damals, heute vielleicht mehr denn
je, da die Abhängigkeit von unserer Umgebung wesentlich zugenommen hat.
Der Mensch ist primär Produkt seiner Umgebung, seiner Zeit, und als
Schaffender kann er nur wiedergeben, was er an Einflüssen aufgenommen
und innerlich verarbeitet hat. Wie er das tut, darin besteht seine
Originalität. Nun ist aber der Komponist nicht nur ein Produkt seiner
Umgebung, sondern auch seiner Vergangenheit, oder wie man zu sagen
pflegt, der Tradition. Er muss aus ihr heraus- und hinauswachsen. Je
mehr die Zeit fortschreitet, umso größer wird diese Schwierigkeit. Bis
zum 18. Jahrhundert hatte der Komponist kaum eine verpflichtende
Tradition hinter sich; es genügte, wenn er anhand seiner unmittelbaren
Vorgänger und seiner Zeitgenossen sein Schaffen gestaltete. Heute kann
es nicht genügen, bei J. S. Bach anzufangen, wie wir es noch vor 60
Jahren taten. Man muss viel weiter zurückgreifen, weil die
Musikwissenschaft auch vorangegangene Jahrhunderte, bis zur Antike,
zugänglich gemacht hat. Hinzu kommen noch die neu aufgedeckte Folklore
europäischer und außereuropäischer Länder, außerdem und vor allem aber
die Strömungen des 20. Jahrhunderts, die sich fast so rasch verändern
wie die Damenmode.
Das so genannte "normale", alltägliche Musikleben spielt sich in der
Vergangenheit ab. Um das Zeitgenössische, Moderne kennen zu lernen, muss
man neue kostspielige Partituren studieren, spezielle Konzerte besuchen,
zu Musikfesten und Kongressen reisen. Denn unsere Konzerte reichen nicht
aus, um über den Stand gegenwärtigen Komponierens zu orientieren. Diese
Gegenwart ist durch ihre Vielfalt irreführend: Sie reicht von der
Romantik bis zur Elektronik, von der totalen Organisation bis zum
Zufall. In diesem Wirrwarr an Möglichkeiten ist es für den jungen - aber
auch alten - Komponisten schwierig, den eigenen Weg zu finden oder gar
einen eigenen Stil zu bilden, den man als unverwechselbaren sofort
erkennt. Dazu gehört besondere Begabung und eine eindringliche
Beschäftigung mit den Dingen der Kunst. In der Kunst ist alles erlaubt,
was Begabung und Phantasie zuwege zu bringen vermag. Es ist nur das
Werk, das entscheidet, die Richtung kommt erst in zweiter Linie in
Betracht. Fehlt es an der Persönlichkeit, so wird das Werk früher oder
später verschwinden, und es bleibt nur sein Name im Verlagskatalog oder
ein Kapitel im Musiklexikon, bis auch dieses mit der nächsten Auflage
verschwindet. Ich beobachte die Musikszene seit 60 Jahren und musste
erleben, wie mancher stolze Name dahinschwand, wahrscheinlich für immer.
Musikverlage wetteifern in der Entdeckung junger Talente, Dirigenten um
Uraufführungen. In den USA gibt es jährlich durchschnittlich fünf- bis
zehntausend Worldpremieren; davon erleben nur etwa zehn eine zweite
Aufführung! Solche Uraufführungen erwecken bei den Komponisten falsche
Hoffnungen, und nach anfänglichen Erfolgen stellt sich eine Ernüchterung
ein. Die Folge: "verkannte" (?) Genies, die nur schwer den ihnen
gebührenden Platz finden.
Unter diesen Umständen scheint es verwunderlich, dass überhaupt noch
komponiert wird: da doch das Repertoire der nicht aufgeführten Werke nur
vergrößert wird mit Kompositionen, die weder die Ausführenden noch das
Publikum wünschen. Auch ist nichts damit zu verdienen, worauf, neben
vielen anderen, auch Joseph Marx hingewiesen hat2: "Die Relation
zwischen dem Arbeitsaufwand eines Könners beim Schaffen eines Werks und
dem wirtschaftlichen Ergebnis ist im Vergleich zu anderen Sparten des
Verdienens einfach beschämend für den geistigen Arbeiter." (Seitdem hat
sich nicht viel verändert.) Und Marx zur Frage der Komponistenförderung
in Österreich: "Sie geschieht am besten durch wirtschaftliche
Unterstützung und Aufführungen." Dass dabei die Begabtesten nicht immer
die Geschicktesten im Umgang mit den Kulturförderern sind und mit leeren
Händen ausgehen, liegt wohl in der Natur der Dinge.
Wer denkt schon daran, dass es nur dem Jahrhunderte dauernden Fleiß der
Komponisten zu verdanken ist, dass heute Millionen Menschen auf der
gesamten Welt sich eines auskömmlichen Daseins erfreuen können, eines
besseren Daseins als 99% der Komponisten, von deren Werke sie leben? Ich
denke dabei nicht nur an die von Steuergeldern subventionierten
sündteuren Opern- und Konzertbetriebe, an Musiklehranstalten und alle
verwalteten und beamteten Musikinstitutionen, an die Rundfunkanstalten,
die mechanische Musikindustrie, Musikverlage und so fort, sondern in
erster Linie an die beliefernde Industrie wie die Hersteller von
Musikinstrumenten und technischen Apparaten. Diese letzteren sind es,
bei welchen auch die arbeitende Klasse, wenngleich nur indirekt, in die
Sache "Musik" eingreift. Der immer noch bürgerliche Musikbetrieb, zu
Joseph Haydns Lebzeit begonnen, vermochte bis heute kaum, die arbeitende
Klasse in das Musikgeschehen einzubeziehen. Trotz wachsender
Verbürgerlichung derselben ist es unseren Kulturpolitikern nahezu nicht
gelungen, gerade jene Massen zur so genannten klassischen Musik
heranzuziehen, von der neuen Musik gar nicht zu reden. Auch die
wachsende Verbreitung des Musikschulwesens scheint dazu nicht
auszureichen. Hauptschuld dürfte der mangelhafte Musikunterricht an den
allgemein bildenden höheren Schulen tragen, der, anstatt zu wachsen, von
Jahr zu Jahr abnimmt. Ohne Zweifel bedürften auch die Musikhochschulen
einer Umstrukturierung.
Die Argumente sind seit fast 150 Jahre dieselben (matt lese nur in den
Biographien von Liszt und Wagner). Und liest man in den chinesischen
Schriften, so waren auch vor 2000 Jahren die Dinge nicht anders. Wir
leben in Zeiten der "Lanzen und Schwerter", und das "Murren des Volkes"
findet auch in unserer Musik seinen Ausdruck. "Aber eine Musik, die mit
diesen Mitteln wirkt, macht nicht heiter. . . . Auf diese Weise geht
auch das Wesen der Musik verloren." Sie tat es vor 2000 Jahren und tut
es heute ebenso, und - ich bin zwar kein Prophet - wird es fortan
wahrscheinlich noch lange tun. Anmerkungen:
1 Dieses Buch wurde anlässlich der "Woche Chinesischer Musik", August
1927, vom Frankfurter China-
Institut herausgegeben. Zitate S. 14 und 15. "Frühling und Herbst des Lü
Bu We" (Lü Schi Tsch'un Ts'iu)
ist das älteste auf unsere Zeit gekommene chinesische Werk, das eine
ausführliche Musiktheorie enthält.
Es stammt aus der Zeit des Herrschers Ts'in, um 255 v. Chr.
2 Aus einem Artikel von Joseph Marx 1947. In: Erik Werba: ,Joseph Marx.
Eine Studie", Wien 1964,
S. 42 und 49.
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