Jenö Takács

zum 80. Geburtstag

Konzertabend mit Werkeinführung durch den Komponisten

Ausstellung

Wien 1982, 28 S., Ill., Notenbeisp.

 

Inhalt:

Seite:

   

Jenö Takács: Wenn man darüber nachdenkt

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Programmfolge des Konzertabends

9

Jenö Takács: Von meinen Kompositionen für die Jugend

10

Werner Schulze: Takács – Lexikon

12

Jenö Takács – Werkverzeichnis seit 1997

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Takács-Werke auf Schallplatten

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Die Ausstellung [Bearbeitung Liselotte Theiner]

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Selbstdarstellung:

Als ich 1933 zum ersten Mal einige Wochen in China verbrachte, erwarb ich ein Büchlein über Chinesische Musik, verfasst vom bekannten Sinologen Richard Wilhelm. Dieser Schrift entnehme ich folgende, vor mehr als 2000 Jahren entstandene Sprüche:
Die Herrscher dieser Welt halten meistens Perlen und Edelsteine, Lanzen und Schwerter für ihr Kostbarstes, aber je mehr sie davon haben, desto mehr murrt das Volk, desto mehr kommt das Land in Gefahr, und desto mehr werden sie selbst in den Untergang verwickelt. Diese Zustände führen in Wirklichkeit. zum Verlust jener Kostbarkeiten. Die Musik eines verkehrten Geschlechts hat dieselben Wirkungen. Wenn Pauken und Trommeln erdröhnen wie Donner, wenn Becken und Klingsteine erklingen wie der Blitz, wenn Flöten und Geigen, Tanzen und Singen lärmend erdröhnen, so ist das wohl geeignet, die Nerven zu erschüttern, die Sinne zu erregen und das Leben überschäumen zu lassen.
Aber eine Musik, die mit diesen Mitteln wirkt, macht nicht heiter. Darum: je rauschender die Musik, desto melancholischer werden die Menschen, desto gefährlicher wird das Land, desto mehr sinkt der Fürst. Auf diese Weise geht auch das Wesen der Musik verloren. ...
Die Töne entstehen im Herzen des Menschen. . . . Nun aber beeinflussen die Außendinge den Menschen unaufhörlich. . . .
Wenn die Welt in Frieden ist, wenn alle Dinge in Ruhe sind . . . , dann lässt sich die Musik vollenden. Die vollendete Musik hat ihre Wirkungen. Wenn die Begierden und Leidenschaften nicht auf falschen Bahnen gehen, dann lässt sich die Musik vervollkommnen. Die vollkommene Musik hat ihre Ursache. Sie entsteht aus dem Gleichgewicht. Das Gleichgewicht entsteht aus dem Rechten, das Rechte entsteht aus dem Sinn der Welt. Darum vermag man nur mit einem Menschen, der den Weltsinn erkannt hat, über die Musik zu reden.
Dass die Außendinge den Menschen, namentlich den Komponisten, beeinflussen, stimmt heute ebenso wie damals, heute vielleicht mehr denn je, da die Abhängigkeit von unserer Umgebung wesentlich zugenommen hat. Der Mensch ist primär Produkt seiner Umgebung, seiner Zeit, und als Schaffender kann er nur wiedergeben, was er an Einflüssen aufgenommen und innerlich verarbeitet hat. Wie er das tut, darin besteht seine Originalität. Nun ist aber der Komponist nicht nur ein Produkt seiner Umgebung, sondern auch seiner Vergangenheit, oder wie man zu sagen pflegt, der Tradition. Er muss aus ihr heraus- und hinauswachsen. Je mehr die Zeit fortschreitet, umso größer wird diese Schwierigkeit. Bis zum 18. Jahrhundert hatte der Komponist kaum eine verpflichtende Tradition hinter sich; es genügte, wenn er anhand seiner unmittelbaren Vorgänger und seiner Zeitgenossen sein Schaffen gestaltete. Heute kann es nicht genügen, bei J. S. Bach anzufangen, wie wir es noch vor 60 Jahren taten. Man muss viel weiter zurückgreifen, weil die Musikwissenschaft auch vorangegangene Jahrhunderte, bis zur Antike, zugänglich gemacht hat. Hinzu kommen noch die neu aufgedeckte Folklore europäischer und außereuropäischer Länder, außerdem und vor allem aber die Strömungen des 20. Jahrhunderts, die sich fast so rasch verändern wie die Damenmode.
Das so genannte "normale", alltägliche Musikleben spielt sich in der Vergangenheit ab. Um das Zeitgenössische, Moderne kennen zu lernen, muss man neue kostspielige Partituren studieren, spezielle Konzerte besuchen, zu Musikfesten und Kongressen reisen. Denn unsere Konzerte reichen nicht aus, um über den Stand gegenwärtigen Komponierens zu orientieren. Diese Gegenwart ist durch ihre Vielfalt irreführend: Sie reicht von der Romantik bis zur Elektronik, von der totalen Organisation bis zum Zufall. In diesem Wirrwarr an Möglichkeiten ist es für den jungen - aber auch alten - Komponisten schwierig, den eigenen Weg zu finden oder gar einen eigenen Stil zu bilden, den man als unverwechselbaren sofort erkennt. Dazu gehört besondere Begabung und eine eindringliche Beschäftigung mit den Dingen der Kunst. In der Kunst ist alles erlaubt, was Begabung und Phantasie zuwege zu bringen vermag. Es ist nur das Werk, das entscheidet, die Richtung kommt erst in zweiter Linie in Betracht. Fehlt es an der Persönlichkeit, so wird das Werk früher oder später verschwinden, und es bleibt nur sein Name im Verlagskatalog oder ein Kapitel im Musiklexikon, bis auch dieses mit der nächsten Auflage verschwindet. Ich beobachte die Musikszene seit 60 Jahren und musste erleben, wie mancher stolze Name dahinschwand, wahrscheinlich für immer. Musikverlage wetteifern in der Entdeckung junger Talente, Dirigenten um Uraufführungen. In den USA gibt es jährlich durchschnittlich fünf- bis zehntausend Worldpremieren; davon erleben nur etwa zehn eine zweite Aufführung! Solche Uraufführungen erwecken bei den Komponisten falsche Hoffnungen, und nach anfänglichen Erfolgen stellt sich eine Ernüchterung ein. Die Folge: "verkannte" (?) Genies, die nur schwer den ihnen gebührenden Platz finden.
Unter diesen Umständen scheint es verwunderlich, dass überhaupt noch komponiert wird: da doch das Repertoire der nicht aufgeführten Werke nur vergrößert wird mit Kompositionen, die weder die Ausführenden noch das Publikum wünschen. Auch ist nichts damit zu verdienen, worauf, neben vielen anderen, auch Joseph Marx hingewiesen hat2: "Die Relation zwischen dem Arbeitsaufwand eines Könners beim Schaffen eines Werks und dem wirtschaftlichen Ergebnis ist im Vergleich zu anderen Sparten des Verdienens einfach beschämend für den geistigen Arbeiter." (Seitdem hat sich nicht viel verändert.) Und Marx zur Frage der Komponistenförderung in Österreich: "Sie geschieht am besten durch wirtschaftliche Unterstützung und Aufführungen." Dass dabei die Begabtesten nicht immer die Geschicktesten im Umgang mit den Kulturförderern sind und mit leeren Händen ausgehen, liegt wohl in der Natur der Dinge.
Wer denkt schon daran, dass es nur dem Jahrhunderte dauernden Fleiß der Komponisten zu verdanken ist, dass heute Millionen Menschen auf der gesamten Welt sich eines auskömmlichen Daseins erfreuen können, eines besseren Daseins als 99% der Komponisten, von deren Werke sie leben? Ich denke dabei nicht nur an die von Steuergeldern subventionierten sündteuren Opern- und Konzertbetriebe, an Musiklehranstalten und alle verwalteten und beamteten Musikinstitutionen, an die Rundfunkanstalten, die mechanische Musikindustrie, Musikverlage und so fort, sondern in erster Linie an die beliefernde Industrie wie die Hersteller von Musikinstrumenten und technischen Apparaten. Diese letzteren sind es, bei welchen auch die arbeitende Klasse, wenngleich nur indirekt, in die Sache "Musik" eingreift. Der immer noch bürgerliche Musikbetrieb, zu Joseph Haydns Lebzeit begonnen, vermochte bis heute kaum, die arbeitende Klasse in das Musikgeschehen einzubeziehen. Trotz wachsender Verbürgerlichung derselben ist es unseren Kulturpolitikern nahezu nicht gelungen, gerade jene Massen zur so genannten klassischen Musik heranzuziehen, von der neuen Musik gar nicht zu reden. Auch die wachsende Verbreitung des Musikschulwesens scheint dazu nicht auszureichen. Hauptschuld dürfte der mangelhafte Musikunterricht an den allgemein bildenden höheren Schulen tragen, der, anstatt zu wachsen, von Jahr zu Jahr abnimmt. Ohne Zweifel bedürften auch die Musikhochschulen einer Umstrukturierung.
Die Argumente sind seit fast 150 Jahre dieselben (matt lese nur in den Biographien von Liszt und Wagner). Und liest man in den chinesischen Schriften, so waren auch vor 2000 Jahren die Dinge nicht anders. Wir leben in Zeiten der "Lanzen und Schwerter", und das "Murren des Volkes" findet auch in unserer Musik seinen Ausdruck. "Aber eine Musik, die mit diesen Mitteln wirkt, macht nicht heiter. . . . Auf diese Weise geht auch das Wesen der Musik verloren." Sie tat es vor 2000 Jahren und tut es heute ebenso, und - ich bin zwar kein Prophet - wird es fortan wahrscheinlich noch lange tun.

 Anmerkungen:
1 Dieses Buch wurde anlässlich der "Woche Chinesischer Musik", August 1927, vom Frankfurter China-
Institut herausgegeben. Zitate S. 14 und 15. "Frühling und Herbst des Lü Bu We" (Lü Schi Tsch'un Ts'iu)
ist das älteste auf unsere Zeit gekommene chinesische Werk, das eine ausführliche Musiktheorie enthält.
Es stammt aus der Zeit des Herrschers Ts'in, um 255 v. Chr.
2 Aus einem Artikel von Joseph Marx 1947. In: Erik Werba: ,Joseph Marx. Eine Studie", Wien 1964,
S. 42 und 49.