Jugend eines Komponisten in Wien

Musikalische Dokumentation

Friedrich Cerha

Ausstellung

Wien 1986, 32 S., Ill., Notenbeisp.

 

Inhalt:

Seite:

   

Programmfolge des Konzertabends

5

Friedrich Cerha: Zu meiner Musik und einigen Problemen des Komponierens heute

7

Lothar Knessl: Zu Friedrich Cerha: Prozesse – immer wieder neu

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Werkverzeichnis Friedrich Cerha

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Schallplattenaufnahmen

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Literatur von und über Friedrich Cerha

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Die Ausstellung [Bearbeitung Liselotte Theiner]

23

 

Selbstdarstellung:

(Manuskript zu einem Vortrag in der Gesellschaft für Musik am 23. 2. 1967)
Jede Kunstsparte hat ihr eigenes Idiom. Das Idiom der Literatur, die Sprache, wurde als Kommunikationsmittel hochgezüchtet und es entstand die Möglichkeit, sich mit diesem Kommunikationsmittel über die Idiome aller anderen Kunstgattungen zu verständigen, sich auch so zu verständigen, als ob diese transponierbar wären - als ob eine derartige Übersetzung überhaupt ein legitimes, zulässiges Unterfangen wäre. - Damit wurde die Literatur über Musik zu einem autonomen Zweig des Kunstbetriebes. Sie hat ihre eigenen Kriterien, ihre Mittel, ihre Moden, ihre Experten, Karrieristen und Meinungsmacher. Die Nicht-Transponierbarkeit vieler musikalischer Vorgänge ins Sprachliche bringt es mit sich, daß viele Autoren der Literatur über Musik jene Elemente mit Vorliebe untersuchen, die mit den Mitteln der Sprache bequem darzulegen sind - formale Anlagen, Zahlenmanipulationen und dergleichen - und jene Werke als stoffliche Grundlage favorisieren, in denen Theorien glatt aufgehen. Musikalisch sind das nicht immer die besten Werke. Es ist bezeichnend, daß z. B. die analytischen Untersuchungen zu Debussy und Berg dünn gesät sind: Warum? Weil hier keine Rechnung glatt aufgeht; wie man es auch anstellt - es bleibt ein Rest! - Die Literatur über Musik hat heute nicht nur einen außerordentlichen Einfluß auf das Musikleben - sie droht auch die Musikgeschichte unserer Tage auf beachtliche Weise zu manipulieren. Einige Komponisten haben bewiesen, wie gut ihre Werke auf dem Umweg über Musik-Literatur durchzusetzen sind. Sie haben so viel über ihre Werke geredet und geschrieben, bis die Leute - als klingendes Exampel sozusagen - schließlich auch die Stücke interessant fanden. Das ist mit guter und mit weniger guter Musik geschehen. Daß man dem Gesprochenen und Geschriebenen vielfach mehr Vertrauen schenkt als dem eigenen Erleben, ist eine nicht aufs Musikalische beschränkte Erscheinung: Lecture on heaven wird nicht nur in der Musik dem Himmel vorgezogen. - Vom Komponisten wird erwartet, daß er sich als Mann der Literatur betätigt: Er soll Werkeinführungen schreiben, Aufsätze, soll Vorträge halten. Dabei sind auch viele gute Komponisten auf dem Gebiet der Literatur und - ich erwähne es mit Recht in diesem Zusammenhang - der Philosophie Dilettanten. Sie stellen ideologische oder modische Aspekte heraus, die für ihre Werke gar nicht von entscheidender Bedeutung sind. Es wäre somit eine Skepsis demgegenüber am Platz, was Komponisten über ihre Werke sagen. Das Gegenteil ist der Fall: Sie werden als letzte Instanz betrachtet, wo sie eigentlich dilettieren. Das Fazit aus diesem Prolog: Als Komponist, als Mann der Musik also, muß ich um Verständnis bitten für die Verlegenheit, in der ich mich befinde, mich in einem Metier zu betätigen, das ich nicht als das meine betrachte. -
Ich möchte in den Bemerkungen zu meiner Musik chronologisch vorgehen: Die Kriegswirren haben mich nach Tirol verschlagen - ich arbeitete als Bergführer. An ein Studium an einer Musikschule oder Hochschule war nicht zu denken; ich muß aber gestehen, daß meine Sehnsucht danach nicht groß war: Den Reserven gegenüber der Rückkehr in eine "akademische" Welt (der Ordnungen) hielt die Versuchung, aus ihr Nutzen zu ziehen, lange die Waage. Ich bin ihr schließlich erlegen - und habe eine Symphonie geschrieben. Was an einem jugendlich-naiven "mal sehen, wie das ist, wenn man eine Symphonie komponiert" und an Modellen aus der Symphonik von Beethoven bis Schönberg in dem Stück steckt, ist nicht schwer - und war auch mir bald nicht schwer zu sehen. Was mir schon zur Zeit des Komponierens verdächtig war und schließlich so unangenehm wurde, daß ich das Stück im letzten Satz stehen ließ, hatte aber eine tiefere Wurzel als es das "weg von der Formel, weg von der verbrauchten Tradition" ist, und die mir erst später in vollem Umfang deutlich bewußt wurde. Sie liegt in meiner Einstellung zum Akzentuieren der Zeit in der Musik und in meiner Abneigung gegenüber dem Herstellen allzu sinnfälliger Beziehungen; letztere deckte sich mit einer entwicklungsgeschichtlich begründeten allgemeinen Tendenz, ist aber bei mir kaum aus ihr allein geboren und in sehr persönlichen Regionen beheimatet. - Ich entdeckte bald, daß das grundlegende und einzige Problem des Komponierens, von dem alle anderen abhängen oder abzuleiten sind, das Verhältnis zur Zeit ist. Die motivisch-entwickelnde Arbeit der traditionellen Symphonik akzentuiert das Zeiterlebnis durch möglichst vielfältige Teilung, durch scharfe Gliederung und dadurch, daß sie beständiges Rückerinnern und Vorausahnen ermöglicht und favorisiert. Mir schwebte damals eine Musik vor, in der im Gegenteil das Zeiterlebnis wenn nicht eliminiert, so doch eingeschränkt, degradiert war - oder die Zeitakzente widerrufen werden. Von frühen Versuchen in dieser Richtung möchte ich zwei nennen: den "Sonnengesang des heiligen Franz von Assisi" für Soli, Chor, Streicher und Harfe (1947/49) und die Vertonung eines Abschnitts aus dem chinesischen I-Ging. Im "Sonnengesang" sollte Zeiterlebnis paralysiert werden durch Verwendung von Ketten fixer Akkorde von gleicher Dauer bei Saties, wiedergefunden habe. Im "Fragment aus dem I-Ging" für Soli, Chor und Orchester (1952) gab es eine deklamatorisch geführte Singstimme über langgehaltenen Streicherakkorden, deren Eintritt von Nachhallinstrumenten zugedeckt wurde: Das Werk existiert nicht mehr. Beide Stücke zeigen ein wesentliches Anliegen meiner späteren Kompositionen zum Teil unvollständig und in noch ungeeignetem, weil zu wenig entformeltem Material verwirklicht. - Die radikale Entformelung, die radikale Entbindung von der Tradition vollzog sich in der internationalen Avantgarde der jungen Generation vor allem durch die Beschäftigung mit Webern, zum Teil auch mit Debussy und der Musik des fernen Ostens, wobei von beiden letzteren merkwürdiger- und bezeichnenderweise mehr der klangliche als der formale Aspekt wahrgenommen wurde. Ich hatte keinen Lehrer, der mir Hilfe hätte leisten können: Der Weg zum Wesentlichen in Weberns Strukturdenken, der der Avantgarde in Frankreich durch Messiaen geebnet wurde, hat sich mir nur langsam geöffnet; das mir später ebenso interessante Wesen der Kompositionsmethode Schönbergs in der atonalen Periode - etwa in der "Erwartung" - zu erfassen, hatte ich damals noch nicht die Möglichkeit. Vieles am späten Schönberg begriff ich - es hat mir aber bei aller Wertschätzung besonders deutlich gezeigt, was ich nicht wollte. Ein Schlüsselwerk aus der Zeit, in der ich eine strukturelle Auflösung kompakter und sinnfälliger Zusammenhänge im Detail und ein Loskommen von einfach überschaubaren Großformen (die übrigens viele ganz "moderne" Werke junger Komponisten heute noch haben) angestrebt habe, sind die 1956 entstandenen "Deux éclats" für Violine und Klavier. Sie bilden eine Gruppe mit den "Espressioni fondamentali" für Orchester und den "Relazioni fragili" für Cembalo und Kammerorchester (Die letzten beiden Werke sind in Rom entstanden-daher die italienischen Titel). In den "Espressioni" erstellte ich Serien von Bewegungsformen, die gleichzeitig Ausdrucktypen sein sollten. Profilierte Gestalten herauszuarbeiten, in denen die Permutation von Einzelelementen Variabilität brachte, aber den Typus nicht wesentlich veränderte, gelang mir dadurch, daß ich die Atomisierung des Materials nicht in allen Schichten des musikalischen Bereichs, vor allem nicht im rhythmischen, - und das ist wesentlich - bis ins Einzelelement vortrieb. Diese Reserve war, wenn man will, eine reaktionäre Reaktion gegenüber der Gefahr der Uniformität des Gesamterlebnisses, die eine totale Aufsplitterung, ein totales Abschaffen aller Bezugspunkte mit sich bringt. Mit einer streng seriellen Methode, die letzteres leistet, hätte ich damals eigentlich meine Ideen im Hinblick auf Eliminierung des alten Zeiterlebens erreichen können. Ich tat es nicht; der Preis war mir zu hoch. Ich konnte das Ordnen von Vorgestelltem nicht missen; mein Wille zu Ausdruck und Form war größer als mein Wille zur Befreiung. Vielleicht habe ich darum diese Stücke "Espressioni fondamentali" genannt. Neben punktuellem Auflösen findet man darin sehr früh und unabhängig von der allgemeinen Entwicklungstendenz ein Amalgamieren rhythmischer, melodischer und harmonischer Konturen, also eigentlich einen der Auflösung-gleichzeitig mit seiner auflösenden Funktion - entgegenwirkenden, Neues konstituierenden Prozeß, der für mich bedeutend werden sollte. In den "Relazioni" sind dann die Bauzellen sehr klein gehalten, was eine größere Variabilität innerhalb des einzelnen Gestalttypus zur Folge hat und eine bessere Vermittlung zwischen den Geweben ermöglicht. Es gibt in dem Stück Blockbildungen, die zuständlich wirken, es gibt aber auch Zustandsänderungen; daß sie sich hauptsächlich an Nahtstellen, an bewußten Bruchstellen vollziehen, zeigt, wie sehr "Dispersion" und "Komposition" in der Großform und im Detail mich gleichzeitig beschäftigt haben. Was für mich an dem Stück heute noch reizvoll ist, ist das Oszillieren zwischen Zustandshören und Gestalterleben. "Relazioni" sind ein vielfältiges Werk, das vielerlei an kompositorischen Problemen enthält, die offensichtlich einer Klärung bedurften. In den "Intersecazioni" für Solovioline und Orchester von 1959 tritt das Zuständliche noch stärker in den Vordergrund. Dicht gewebte Blöcke werden übereinandergestellt und laufen zum Teil eigenzeitlich ab. Das Kontrapunktieren eigenzeitlicher Prozesse bringt große interpretatorische Probleme: Das Stück wurde bis heute nicht aufgeführt (Anmerkung: Die Uraufführung hat im Musikprotokoll 1973 in Graz durch das Südfunkorchester unter Michael Gielen stattgefunden; Solist war Ernst Kovacic). Das sicherlich wichtigste Werk für meine weitere Entwicklung sind die "Trois Mouvements", Bewegungsstudien, die ich binnen weniger Tage im Winter 1960 konzipiert habe. Spontan habe ich mich darin für jeweils ein Stück auf einen einzigen, charakteristischen Klangzustand beschränkt. Bewegung ist hier keine grundsätzliche Zustandsänderung, sondern sie vollzieht sich innerhalb eines für das jeweilige Stück charakteristischen Zustands. "Mouvement I" verwendet hohe, kurze Klänge, die vom Hölzernen bis zum Metallisch-Gläsernen reichen. Das Geschehen resultiert aus Farb-, Dichte- und Intensitätsveränderungen, all das aber vollzieht sich innerhalb des für dieses Stück charakteristischen Zustands des Hell-Klappernden. Im zweiten Mouvement geschehen innerhalb eines abgesteckten Tonraums in gewissen Zonen Ereignisse, andere Zonen bleiben stumm. Es gibt einen Teppich von sehr langsamen, leisen Streicherglissandi, dessen Konturen von kurzen Fortissimo-Blechbläserstichen durchbohrt werden. Die von den Streichern realisierten Bewegungen vermitteln kein musikalisches Zeiterlebnis, durch die Bläserattacken aber wird die Zeit doch so geteilt, daß im Hörer der Eindruck von Vorgang, von Ablauf entsteht. Der dritte Satz verzichtet völlig auf kurze Werte, er besteht aus einem einzigen, tiefen Cluster. Wie Zonen und Farben unmerklich kenntlich werden, hervortreten und wieder verschwinden, das ist das Ereignis des Stückes. Leben und Bewegen subtiler Farbnuancen, das kaum merkliche Fortschreiten von einem zum anderen hat mich immer fasziniert - lange habe ich nicht gewagt, die Zeit, die es braucht, um seine Existenz kundzutun, wirklich zu beanspruchen und ich wäre auch technisch nicht imstande gewesen, es zu realisieren. Dauerwahrnehmung geht innerhalb dieses Stücks gänzlich verloren, die Gesamtdauer tritt dadurch desto stärker in Erscheinung. Die Großanlage der Mouvements ergibt ein Geschehen im Schritt von Stück zu Stück; so gesehen präsentieren sich die drei Zustandsstudien als Stufen eines Vorgangs. Dem dritten Mouvement ist ein Zug zum Monomanen eigen. Er findet in Spiegel V seine Fortsetzung und letzte Konsequenz. Während im Mouvement III aber verschiedene Zonen eines einzelnen Klanges wechselweise hervortreten und wieder verschwinden, dreht sich im Spiegel V ein ganzer homogener Klangkörper; keine Stimme, keine Orchestergruppe ragt hervor, dominiert. Das Tonband ist nur ein Teil des Orchesters; wie alle Instrumente des großen Apparates dient es nur dem - wahrscheinlich beängstigenden-Gesamtklang. Neben Spiegel V stellt Spiegel III ein in anderer Weise absolut kontinuierlich geformtes Stück von ganz anderem, für mich apollinisch-mediterranem Wesen dar. Die Stücke sind - man könnte meine Bemerkung von apollinischer Schönheit und beängstigender Grausamkeit mißverstanden haben - rein musikalisch konzipiert. Es ist aber wahrscheinlich, daß jene Phänomene, die mich am stärksten bewegen und zu ständiger Auseinandersetzung zwingen, unbewußt meine Klangvorstellungen gespeist haben. Vielleicht hätte man vor 100 Jahren den Sätzen meiner Spiegel Namen gegeben: Nebel, Sonne, Wind und Meer, Schreie, Wüste, Angst... In bewußten Bereichen bleiben musikalische Vorstellung und kompositorisches Vorgehen von diesen Phänomenen unberührt. Die kompositorischen Anliegen entwickeln sich konsequent aus denen der vorangegangenen Werke; einzelne Teile greifen Ideen aus den Mouvements, die relativ einfache Studien sind, in komplexerer Form wieder auf. Spiegel IV hängt z. B. in dieser Weise mit Mouvement II zusammen. Die kompositorische Beherrschung eines bestimmten Zustands bzw. entformelter Vorgänge innerhalb eines Zustands hat mir den Weg geebnet, neue Möglichkeiten prozeßhaft-progressiven Gestaltens denken zu lernen.

Um einen Begriff davon zu geben, was ich prozeßhaft-progressive Vorgänge nenne: Ich habe angedeutet, daß die Analyse der "Erwartung" von Schönberg für mich von großer Bedeutung war, ein Werk, dem zunächst mit traditionellen analytischen Mitteln nicht beizukommen ist und das mich gerade durch diese rätselhafte Undurchdringlichkeit fasziniert hat. Hier fand ich ein Prinzip, das ich "Anstoßverfahren" nennen möchte: Ein Impuls wird gegeben, das nächstliegende Ereignis ist eng mit diesem Impuls verknüpft, jedes weitere bezieht sich zumeist nur auf das Vorhergehende. Es ist ein extrem lineares Verfahren, vergleichbar etwa einer Kettenreaktion. Spiegel I enthält etwas davon. Ich bin später zu komplexeren Bildungen dieser Art in der Gestaltung fortgeschritten, bewußt zum ersten Mal in Spiegel II: In diesem Stück, das nur von Streichern gespielt wird, gibt es Vorgänge, die sich am besten mit dem Prinzip der Rückkopplung vergleichen lassen, dem simpelsten nicht linearen Prozeß. Nicht lineare Formprozesse beschäftigen mich auch in meinen jüngsten Werken in besonderem Maß. Im Zusammenhang mit meiner Musik ist immer viel von "Klang" die Rede gewesen. Ich liebe Klang, aber ich wäre froh, begreiflich zu machen, daß es mir nicht um Klang an sich, nicht einmal um das, was man heute "Klangkomposition" nennt - geht, sondern um Möglichkeiten in der Komposition überhaupt, um die Frage, wie vom gegenwärtigen Punkt der Entwicklung aus eine sinnvolle Weiterführung der musikalischen Gestaltung denkbar ist. Vielleicht geht manches darum, einem neuen Verhältnis zu grundlegenden Phänomenen der musikalischen Gestaltung nachzuspüren. Davon und vom Versuch, neue Formen zu denken, neue Verhältnisse von Ordnung und Unordnung aufzusuchen, Wechselwirkungen von Elementen und Systemen zu erproben, ist etwas in meinen Stücken, z. B. in den eben vollendeten "Exercises", die Heterogenes enthalten und deren Anlage an die multistabilen Systeme im biologischen Bereich erinnert. Das alles ist vom Interesse am Klang um des Klangreizes willen recht weit entfernt. Es erscheint mir auch im gegenwärtigen Zeitpunkt kaum etwas unnötiger als unkontrollierte, kompositorisch nicht beherrschte Anhäufung von Klangmöglichkeiten, die gerade durch ihre formale Isolation zum Effekt werden, wie man ihn neben anderem modernistischen Formelkram in neuen Partituren leider häufig findet. Die Aufgaben, die sich stellen, sind schwierig, die Belastung, der die zumeist isolierte künstlerische Einzelexistenz ausgesetzt ist, ist enorm. Es ist daher verständlich, daß es Ausbruchsversuche, Fluchtversuche verschiedenster Art gibt. Das Ausweichen in ein Komponieren, das doch nicht gestaltet, wie es in den Rechenexempeln der frühseriellen Stücke zu finden war, hat sich weitgehend überlebt. Es ist zu mühsam. Das Ausweichen in Zufallsmanipulationen ist noch unverbindlicher und amüsanter und daher in verschiedenen Abarten mit und ohne philosophische Begründung noch im Schwang. Ihre schärfste Ausformung haben diese Tendenzen im Happening gefunden: Die Welt ist ein großes, psychohygienisch wirksames Privattheater; alles ist möglich und alles ist einerlei. Ein Satz von Eichendorff: Ich hab mein Sein auf nichts gestellt, Hollo-drio ...! Ein Fluchtversuch, der sich aus dem Heimweh nach Kontakt mit dem Publikum erklärt, ist der vergnügliche Regress. Dreiklang und Kadenz als modernistischer Gag, Neobiedermeier, verbrämt mit dadaistischen Accessoirs... Von allen sich anbiedernden Fluchtwegen ist der neu-biedermeierliche der biederste. Die andere Form der Sehnsucht nach Kontakt ist verkappter, schwerer zu durchschauen: Sie äußert sich in der Vorliebe fürs große Aufgebot, für das Oratoriumserlebnis, im Zug zu altehrwürdigen Texten von absoluter Gültigkeit wie Messe, Bibelwort und Passion. Es entstehen auf diese Weise eindrucksvolle, manchmal sogar sehr gute Stücke. Der Preis eines musiksprachlichen Regresses, der mit der Vertonung eines Textes häufig verbunden ist, erscheint mir aber zu hoch, wenn die Kompositionen nicht die bescheidensten formalen Ansprüche, Fragen und Probleme, die im gegenwärtigen Zeitpunkt der Entwicklung zu stellen wären, berühren, geschweige denn erfüllen. - Bleibt nur die Möglichkeit, es auf einem Weg voll Abenteuern, dessen Richtigkeit und Erfolg in keiner Weise gesichert ist, weiter zu versuchen - womit ich, um den Verdacht der Pathetik im Keim zu ersticken, rasch ende.