Selbstdarstellung:
(Manuskript zu einem Vortrag in der Gesellschaft für Musik am 23. 2.
1967)
Jede Kunstsparte hat ihr eigenes Idiom. Das Idiom der Literatur, die
Sprache, wurde als Kommunikationsmittel hochgezüchtet und es entstand
die Möglichkeit, sich mit diesem Kommunikationsmittel über die Idiome
aller anderen Kunstgattungen zu verständigen, sich auch so zu
verständigen, als ob diese transponierbar wären - als ob eine derartige
Übersetzung überhaupt ein legitimes, zulässiges Unterfangen wäre. -
Damit wurde die Literatur über Musik zu einem autonomen Zweig des
Kunstbetriebes. Sie hat ihre eigenen Kriterien, ihre Mittel, ihre Moden,
ihre Experten, Karrieristen und Meinungsmacher. Die
Nicht-Transponierbarkeit vieler musikalischer Vorgänge ins Sprachliche
bringt es mit sich, daß viele Autoren der Literatur über Musik jene
Elemente mit Vorliebe untersuchen, die mit den Mitteln der Sprache
bequem darzulegen sind - formale Anlagen, Zahlenmanipulationen und dergleichen
- und jene Werke
als stoffliche Grundlage favorisieren, in denen Theorien glatt aufgehen. Musikalisch
sind das nicht immer die besten Werke. Es ist bezeichnend, daß z. B. die analytischen
Untersuchungen zu Debussy und Berg dünn gesät sind: Warum? Weil hier keine Rechnung glatt aufgeht; wie
man es auch anstellt - es bleibt ein Rest! - Die Literatur über Musik hat heute nicht nur
einen außerordentlichen Einfluß auf das Musikleben - sie droht auch die
Musikgeschichte unserer Tage auf beachtliche Weise zu manipulieren. Einige Komponisten haben bewiesen, wie gut ihre Werke
auf dem Umweg über Musik-Literatur durchzusetzen sind. Sie haben so viel über ihre
Werke geredet und geschrieben, bis die Leute - als klingendes Exampel
sozusagen - schließlich auch die Stücke interessant fanden. Das ist mit
guter und mit weniger guter Musik geschehen. Daß man dem Gesprochenen
und Geschriebenen vielfach mehr Vertrauen schenkt als dem eigenen
Erleben, ist eine nicht aufs Musikalische beschränkte Erscheinung: Lecture on heaven wird
nicht nur in der Musik dem Himmel vorgezogen. - Vom Komponisten wird erwartet, daß er sich als
Mann der Literatur betätigt: Er soll Werkeinführungen schreiben,
Aufsätze, soll Vorträge halten. Dabei sind auch viele gute Komponisten auf dem Gebiet der Literatur und
- ich erwähne es
mit Recht in diesem Zusammenhang - der Philosophie Dilettanten. Sie stellen ideologische
oder modische Aspekte heraus, die für ihre Werke gar nicht von entscheidender Bedeutung sind.
Es wäre somit eine Skepsis demgegenüber am Platz, was Komponisten über ihre Werke sagen.
Das Gegenteil ist der Fall: Sie werden als letzte Instanz betrachtet, wo sie eigentlich
dilettieren. Das Fazit aus diesem Prolog: Als Komponist, als Mann der Musik also, muß
ich um Verständnis bitten für die Verlegenheit, in der ich mich befinde,
mich in einem Metier zu betätigen, das ich nicht als das meine
betrachte. -
Ich möchte in den Bemerkungen zu meiner Musik chronologisch vorgehen:
Die Kriegswirren haben mich nach Tirol verschlagen - ich arbeitete als
Bergführer. An ein Studium an einer Musikschule oder Hochschule war
nicht zu denken; ich muß aber gestehen, daß meine Sehnsucht danach nicht
groß war: Den Reserven gegenüber der Rückkehr in eine "akademische" Welt
(der Ordnungen) hielt die Versuchung, aus ihr Nutzen zu ziehen, lange
die Waage. Ich bin ihr schließlich erlegen - und habe eine Symphonie
geschrieben. Was an einem jugendlich-naiven "mal sehen, wie das ist,
wenn man eine Symphonie komponiert" und an Modellen aus der Symphonik von Beethoven bis
Schönberg in dem Stück steckt, ist nicht schwer - und war auch mir bald nicht schwer zu sehen.
Was mir schon zur Zeit des Komponierens verdächtig war und schließlich so unangenehm wurde, daß ich das Stück
im letzten Satz stehen ließ, hatte aber eine tiefere Wurzel als es das "weg von der Formel, weg von der verbrauchten
Tradition" ist, und die mir erst später in vollem Umfang deutlich bewußt wurde.
Sie liegt in meiner Einstellung zum Akzentuieren der Zeit in der Musik und in meiner Abneigung gegenüber dem Herstellen
allzu sinnfälliger Beziehungen; letztere deckte sich mit einer entwicklungsgeschichtlich begründeten allgemeinen Tendenz,
ist aber bei mir kaum aus ihr allein geboren und in sehr persönlichen Regionen beheimatet.
- Ich entdeckte bald, daß das grundlegende und einzige Problem des Komponierens, von dem alle anderen abhängen
oder abzuleiten sind, das Verhältnis zur Zeit ist. Die motivisch-entwickelnde Arbeit der traditionellen Symphonik
akzentuiert das Zeiterlebnis durch möglichst vielfältige Teilung, durch scharfe Gliederung und dadurch, daß sie beständiges
Rückerinnern und Vorausahnen ermöglicht und favorisiert. Mir schwebte damals eine Musik vor, in der im Gegenteil das
Zeiterlebnis wenn nicht eliminiert, so doch eingeschränkt, degradiert war - oder die Zeitakzente widerrufen werden.
Von frühen Versuchen in dieser Richtung möchte ich zwei nennen: den "Sonnengesang des heiligen Franz von Assisi" für
Soli, Chor, Streicher und Harfe (1947/49) und die Vertonung eines Abschnitts aus dem chinesischen I-Ging.
Im "Sonnengesang" sollte Zeiterlebnis paralysiert werden durch Verwendung von Ketten fixer Akkorde von gleicher Dauer
bei Saties, wiedergefunden habe. Im "Fragment aus dem I-Ging" für Soli, Chor und Orchester (1952)
gab es eine deklamatorisch geführte Singstimme über langgehaltenen Streicherakkorden, deren Eintritt von
Nachhallinstrumenten zugedeckt wurde: Das Werk existiert nicht mehr. Beide Stücke zeigen ein wesentliches Anliegen
meiner späteren Kompositionen zum Teil unvollständig und in noch ungeeignetem, weil zu wenig entformeltem
Material verwirklicht. - Die radikale Entformelung, die radikale Entbindung von der Tradition vollzog sich in der
internationalen Avantgarde der jungen Generation vor allem durch die Beschäftigung mit Webern, zum Teil auch
mit Debussy und der Musik des fernen Ostens, wobei von beiden letzteren merkwürdiger- und bezeichnenderweise
mehr der klangliche als der formale Aspekt wahrgenommen wurde. Ich hatte keinen Lehrer, der mir Hilfe hätte
leisten können: Der Weg zum Wesentlichen in Weberns Strukturdenken, der der Avantgarde in Frankreich durch Messiaen
geebnet wurde, hat sich mir nur langsam geöffnet; das mir später ebenso interessante Wesen der Kompositionsmethode
Schönbergs in der atonalen Periode - etwa in der "Erwartung" - zu erfassen, hatte ich damals noch nicht die Möglichkeit.
Vieles am späten Schönberg begriff ich - es hat mir aber bei aller Wertschätzung besonders deutlich gezeigt,
was ich nicht wollte. Ein Schlüsselwerk aus der Zeit, in der ich eine strukturelle Auflösung kompakter
und sinnfälliger Zusammenhänge im Detail und ein Loskommen von einfach überschaubaren Großformen
(die übrigens viele ganz "moderne" Werke junger Komponisten heute noch haben) angestrebt habe,
sind die 1956 entstandenen "Deux éclats" für Violine und Klavier. Sie bilden eine Gruppe mit den "Espressioni fondamentali"
für Orchester und den "Relazioni fragili" für Cembalo und Kammerorchester (Die letzten beiden Werke sind in Rom
entstanden-daher die italienischen Titel). In den "Espressioni" erstellte ich Serien von Bewegungsformen,
die gleichzeitig Ausdrucktypen sein sollten. Profilierte Gestalten herauszuarbeiten, in denen die Permutation
von Einzelelementen Variabilität brachte, aber den Typus nicht wesentlich veränderte, gelang mir dadurch,
daß ich die Atomisierung des Materials nicht in allen Schichten des musikalischen Bereichs, vor allem
nicht im rhythmischen, - und das ist wesentlich - bis ins Einzelelement vortrieb. Diese Reserve war, wenn man will,
eine reaktionäre Reaktion gegenüber der Gefahr der Uniformität des Gesamterlebnisses, die eine totale Aufsplitterung,
ein totales Abschaffen aller Bezugspunkte mit sich bringt. Mit einer streng seriellen Methode, die letzteres leistet,
hätte ich damals eigentlich meine Ideen im Hinblick auf Eliminierung des alten Zeiterlebens erreichen können.
Ich tat es nicht; der Preis war mir zu hoch. Ich konnte das Ordnen von Vorgestelltem nicht missen; mein Wille zu Ausdruck
und Form war größer als mein Wille zur Befreiung. Vielleicht habe ich darum diese Stücke "Espressioni fondamentali" genannt.
Neben punktuellem Auflösen findet man darin sehr früh und unabhängig von der allgemeinen Entwicklungstendenz
ein Amalgamieren rhythmischer, melodischer und harmonischer Konturen, also eigentlich einen der Auflösung-gleichzeitig
mit seiner auflösenden Funktion - entgegenwirkenden, Neues konstituierenden Prozeß, der für mich bedeutend werden sollte.
In den "Relazioni" sind dann die Bauzellen sehr klein gehalten, was eine größere Variabilität innerhalb des einzelnen
Gestalttypus zur Folge hat und eine bessere Vermittlung zwischen den Geweben ermöglicht. Es gibt in dem Stück Blockbildungen,
die zuständlich wirken, es gibt aber auch Zustandsänderungen; daß sie sich hauptsächlich an Nahtstellen,
an bewußten Bruchstellen vollziehen, zeigt, wie sehr "Dispersion" und "Komposition" in der Großform und im Detail
mich gleichzeitig beschäftigt haben. Was für mich an dem Stück heute noch reizvoll ist, ist das Oszillieren zwischen
Zustandshören und Gestalterleben. "Relazioni" sind ein vielfältiges Werk, das vielerlei an kompositorischen Problemen
enthält, die offensichtlich einer Klärung bedurften.
In den "Intersecazioni" für Solovioline und Orchester von 1959 tritt das Zuständliche
noch stärker in den Vordergrund. Dicht gewebte Blöcke werden übereinandergestellt und laufen zum Teil
eigenzeitlich ab. Das Kontrapunktieren eigenzeitlicher Prozesse bringt große interpretatorische Probleme:
Das Stück wurde bis heute nicht aufgeführt (Anmerkung: Die Uraufführung hat im Musikprotokoll 1973 in Graz
durch das Südfunkorchester unter Michael Gielen stattgefunden; Solist war Ernst Kovacic).
Das sicherlich wichtigste Werk für meine weitere Entwicklung sind die "Trois Mouvements", Bewegungsstudien,
die ich binnen weniger Tage im Winter 1960 konzipiert habe. Spontan habe ich mich darin für jeweils ein Stück
auf einen einzigen, charakteristischen Klangzustand beschränkt. Bewegung ist hier keine grundsätzliche Zustandsänderung,
sondern sie vollzieht sich innerhalb eines für das jeweilige Stück charakteristischen Zustands.
"Mouvement I" verwendet hohe, kurze Klänge, die vom Hölzernen bis zum Metallisch-Gläsernen reichen.
Das Geschehen resultiert aus Farb-, Dichte- und Intensitätsveränderungen, all das aber vollzieht sich innerhalb
des für dieses Stück charakteristischen Zustands des Hell-Klappernden. Im zweiten Mouvement geschehen innerhalb
eines abgesteckten Tonraums in gewissen Zonen Ereignisse, andere Zonen bleiben stumm. Es gibt einen Teppich
von sehr langsamen, leisen Streicherglissandi, dessen Konturen von kurzen Fortissimo-Blechbläserstichen
durchbohrt werden. Die von den Streichern realisierten Bewegungen vermitteln kein musikalisches Zeiterlebnis,
durch die Bläserattacken aber wird die Zeit doch so geteilt, daß im Hörer der Eindruck von Vorgang, von Ablauf entsteht.
Der dritte Satz verzichtet völlig auf kurze Werte, er besteht aus einem einzigen, tiefen Cluster.
Wie Zonen und Farben unmerklich kenntlich werden, hervortreten und wieder verschwinden, das ist das Ereignis des Stückes.
Leben und Bewegen subtiler Farbnuancen, das kaum merkliche Fortschreiten von einem zum anderen hat mich immer
fasziniert - lange habe ich nicht gewagt, die Zeit, die es braucht, um seine Existenz kundzutun, wirklich zu beanspruchen
und ich wäre auch technisch nicht imstande gewesen, es zu realisieren. Dauerwahrnehmung geht innerhalb
dieses Stücks gänzlich verloren, die Gesamtdauer tritt dadurch desto stärker in Erscheinung.
Die Großanlage der Mouvements ergibt ein Geschehen im Schritt von Stück zu Stück; so gesehen präsentieren
sich die drei Zustandsstudien als Stufen eines Vorgangs. Dem dritten Mouvement ist ein Zug zum Monomanen eigen.
Er findet in Spiegel V seine Fortsetzung und letzte Konsequenz. Während im Mouvement III aber verschiedene Zonen
eines einzelnen Klanges wechselweise hervortreten und wieder verschwinden, dreht sich im Spiegel V ein ganzer homogener
Klangkörper; keine Stimme, keine Orchestergruppe ragt hervor, dominiert. Das Tonband ist nur ein Teil des Orchesters;
wie alle Instrumente des großen Apparates dient es nur dem - wahrscheinlich beängstigenden-Gesamtklang.
Neben Spiegel V stellt Spiegel III ein in anderer Weise absolut kontinuierlich geformtes Stück von ganz anderem,
für mich apollinisch-mediterranem Wesen dar. Die Stücke sind - man könnte meine Bemerkung von apollinischer Schönheit
und beängstigender Grausamkeit mißverstanden haben - rein musikalisch konzipiert. Es ist aber wahrscheinlich,
daß jene Phänomene, die mich am stärksten bewegen und zu ständiger Auseinandersetzung zwingen, unbewußt meine
Klangvorstellungen gespeist haben. Vielleicht hätte man vor 100 Jahren den Sätzen meiner Spiegel Namen gegeben:
Nebel, Sonne, Wind und Meer, Schreie, Wüste, Angst... In bewußten Bereichen bleiben musikalische Vorstellung
und kompositorisches Vorgehen von diesen Phänomenen unberührt. Die kompositorischen Anliegen entwickeln sich
konsequent aus denen der vorangegangenen Werke; einzelne Teile greifen Ideen aus den Mouvements, die relativ
einfache Studien sind, in komplexerer Form wieder auf. Spiegel IV hängt z. B. in dieser Weise mit Mouvement II zusammen.
Die kompositorische Beherrschung eines bestimmten Zustands bzw. entformelter Vorgänge innerhalb eines Zustands hat mir
den Weg geebnet, neue Möglichkeiten prozeßhaft-progressiven Gestaltens denken zu lernen.
Um einen Begriff davon zu geben, was ich prozeßhaft-progressive Vorgänge nenne: Ich habe angedeutet,
daß die Analyse der "Erwartung" von Schönberg für mich von großer Bedeutung war, ein Werk, dem zunächst
mit traditionellen analytischen Mitteln nicht beizukommen ist und das mich gerade durch diese rätselhafte
Undurchdringlichkeit fasziniert hat. Hier fand ich ein Prinzip, das ich "Anstoßverfahren" nennen möchte:
Ein Impuls wird gegeben, das nächstliegende Ereignis ist eng mit diesem Impuls verknüpft, jedes weitere bezieht
sich zumeist nur auf das Vorhergehende. Es ist ein extrem lineares Verfahren, vergleichbar etwa einer Kettenreaktion.
Spiegel I enthält etwas davon. Ich bin später zu komplexeren Bildungen dieser Art in der Gestaltung fortgeschritten,
bewußt zum ersten Mal in Spiegel II: In diesem Stück, das nur von Streichern gespielt wird, gibt es Vorgänge,
die sich am besten mit dem Prinzip der Rückkopplung vergleichen lassen, dem simpelsten nicht linearen Prozeß.
Nicht lineare Formprozesse beschäftigen mich auch in meinen jüngsten Werken in besonderem Maß.
Im Zusammenhang mit meiner Musik ist immer viel von "Klang" die Rede gewesen. Ich liebe Klang, aber ich wäre froh,
begreiflich zu machen, daß es mir nicht um Klang an sich, nicht einmal um das, was man heute "Klangkomposition"
nennt - geht, sondern um Möglichkeiten in der Komposition überhaupt, um die Frage, wie vom gegenwärtigen Punkt
der Entwicklung aus eine sinnvolle Weiterführung der musikalischen Gestaltung denkbar ist. Vielleicht geht manches
darum, einem neuen Verhältnis zu grundlegenden Phänomenen der musikalischen Gestaltung nachzuspüren.
Davon und vom Versuch, neue Formen zu denken, neue Verhältnisse von Ordnung und Unordnung aufzusuchen,
Wechselwirkungen von Elementen und Systemen zu erproben, ist etwas in meinen Stücken, z. B. in den eben
vollendeten "Exercises", die Heterogenes enthalten und deren Anlage an die multistabilen Systeme im biologischen
Bereich erinnert.
Das alles ist vom Interesse am Klang um des Klangreizes willen recht weit entfernt.
Es erscheint mir auch im gegenwärtigen Zeitpunkt kaum etwas unnötiger als unkontrollierte, kompositorisch
nicht beherrschte Anhäufung von Klangmöglichkeiten, die gerade durch ihre formale Isolation zum Effekt werden,
wie man ihn neben anderem modernistischen Formelkram in neuen Partituren leider häufig findet.
Die Aufgaben, die sich stellen, sind schwierig, die Belastung, der die zumeist isolierte künstlerische
Einzelexistenz ausgesetzt ist, ist enorm. Es ist daher verständlich, daß es Ausbruchsversuche, Fluchtversuche
verschiedenster Art gibt. Das Ausweichen in ein Komponieren, das doch nicht gestaltet, wie es in den Rechenexempeln
der frühseriellen Stücke zu finden war, hat sich weitgehend überlebt. Es ist zu mühsam.
Das Ausweichen in Zufallsmanipulationen ist noch unverbindlicher und amüsanter und daher in verschiedenen
Abarten mit und ohne philosophische Begründung noch im Schwang. Ihre schärfste Ausformung haben diese
Tendenzen im Happening gefunden: Die Welt ist ein großes, psychohygienisch wirksames Privattheater;
alles ist möglich und alles ist einerlei. Ein Satz von Eichendorff: Ich hab mein Sein auf nichts gestellt, Hollo-drio ...!
Ein Fluchtversuch, der sich aus dem Heimweh nach Kontakt mit dem Publikum erklärt, ist der vergnügliche Regress.
Dreiklang und Kadenz als modernistischer Gag, Neobiedermeier, verbrämt mit dadaistischen Accessoirs...
Von allen sich anbiedernden Fluchtwegen ist der neu-biedermeierliche der biederste.
Die andere Form der Sehnsucht nach Kontakt ist verkappter, schwerer zu durchschauen:
Sie äußert sich in der Vorliebe fürs große Aufgebot, für das Oratoriumserlebnis, im Zug zu altehrwürdigen Texten
von absoluter Gültigkeit wie Messe, Bibelwort und Passion. Es entstehen auf diese Weise eindrucksvolle,
manchmal sogar sehr gute Stücke. Der Preis eines musiksprachlichen Regresses, der mit der Vertonung
eines Textes häufig verbunden ist, erscheint mir aber zu hoch, wenn die Kompositionen nicht die bescheidensten
formalen Ansprüche, Fragen und Probleme, die im gegenwärtigen Zeitpunkt der Entwicklung zu stellen wären, berühren,
geschweige denn erfüllen. - Bleibt nur die Möglichkeit, es auf einem Weg voll Abenteuern, dessen Richtigkeit
und Erfolg in keiner Weise gesichert ist, weiter zu versuchen - womit ich, um den Verdacht der Pathetik im Keim
zu ersticken, rasch ende.
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