Selbstdarstellung:
In seiner 1912 verfaßten Untersuchung zum Frühwerk Arnold Schönbergs
schrieb Anton Webern: "Die Erlebnisse seines Herzens wurden zu Tönen,
Schönbergs Verhältnis zur Kunst wurzelt ausschließlich im
Ausdrucksbedürfnis." Würde man mich fragen, warum ich komponiere (und es
gibt immer Leute, die derartiges fragen), so könnte ich ähnlich
antworten. Selten nur habe ich darüber in kühler Distanz nachgedacht.
Selten auch oder zumindest nur unwillig habe ich Auskünfte erteilt über
bestimmte Methoden, Strukturprinzipien oder Stileigentümlichkeiten,
welche manche Komponisten wie große Geheimnisse hüten. Warum ich mich
diesem Beruf verschrieben habe, der ja obendrein noch angereichert wird
durch Unterrichten, Schreiben, Zeichnen und Forschen, ist schwer zu
sagen. Im Alter von 16 Jahren hatte mich die Mykologie (Pilze) fast
ebenso beschäftigt wie die Musik, obwohl ich seit dem 14. Lebensjahr
komponiere. Im 17. Lebensjahr fiel dann die Entscheidung zugunsten der
Musik.
Was ich unter "Schreiben" verstehe, ist leichter zu erklären: frühzeitig
erwachte das Streben, für gewisse szenische Vorhaben die Texte selber zu
verfassen. So schrieb ich mir die Libretti zu den Märchenopern ("Igel",
"Mann im Mond"), nicht zuletzt zu den beiden abendfüllenden Opern
("Paracelsus" [im Krieg verbrannt] und "Der Engel von Prag") selbst.
Anderseits suchte ich seit eh und je die Anregung durch eine
qualifizierte Dichtung, die mich inhaltlich wie sprachlich in ihren Bann
zog. Magneten besonderer Art waren sehr früh Joseph von Eichendorff und
- schon während des Krieges - Hans Carossa und Josef Weinheber, später
dann Georg Trakl, der mich bis heute beschäftigt. Auch die höchst
subtile und doch dynamische Sprache des Senegalesen Léopold S. Senghor,
die ich unübersetzt (französisch) vertonte, hat mich angelockt;
jüngstens die genial-skurrile Sprachkunst H. C. Artmanns, zu dessen
Texten ich einen Gitarren-Zyklus mit Sprechstimme schrieb. Überblicke
ich die zahllosen Anregungen durch Dichtung - der Raum verbietet mir ein
Eingehen auf die aus mittelalterlicher Dichtung (etwa Mönch von Salzburg
oder Oswald von Wolkenstein) empfangenen Impulse - so steht die breit
gefächerte Front von Anregungen aus der Welt der Bilder, mit oder ohne
Farbe, dicht daneben. Vielleicht hat mich diese schon in den frühesten
Jahren musikalisch geprägt, wobei hinzuzufügen ist, daß beide Eltern
Maler waren, mein noch lebender Vater (94) außerdem Bildhauer und die
Mutter (gest. 1957) ausgebildete Pianistin (ihr Lehrer war August
Göllerich in Linz). Nun bin ich keineswegs imstande, klar zu definieren,
welche spezifischen Elemente eines bildnerischen Kunstwerks die
sogenannte musikalische "Inspiration" hervorrufen. Mein von mir mehrmals
gestalteter Zyklus nach Holbeins "Bilder des Todes" war 1946
ausschließlich für 2 Klaviere geschrieben, ein musikalischer "Farbton",
der mir den Holzschnitten Holbeins am ehesten zu entsprechen schien.
Ferner: wie Holbein die in immer neuen Varianten erscheinende
Hauptgestalt, den Tod, gestisch und dynamisch wandelt, so versuchte auch
ich, eine Grundmelodie ("Der grimmig Tod mit seinem Pfeil") in immer
neuen Wandlungen, mit neuen Kontrapunkten und Verfremdungen durch das
ganze zyklische Werk hindurchzuführen. Von einer Illustration der
Holbein'schen Bilder konnte natürlich keine Rede sein. Vielmehr bestand
mein Streben darin, als heutiger Musiker mit den mir zur Verfügung
stehenden Mitteln auszudrücken, was diesen Meister vor rund 400 Jahren
bewegt haben mag.
Manche später ausgeführte Komposition hat bei mir ihren Ursprung in der
Improvisation (Orgel oder Klavier), auch habe ich in früheren Jahren oft
zum Ausdruckstanz improvisiert (u.a. bei Mary Wigman und Leslie Burrowes
in London 1933) und viel aus der Beobachtung gelernt, - ein Grund
vielleicht, warum ein Teil meiner Kompositionen mit Tanz zu tun hat
(z.B. das Ballett "Apollon und Marsyas" oder die Orchestersuite "Zorzikos").
In diesem Zusammenhang möchte ich auch die aus Liedpflege und
Liedforschung erhaltenen Anregungen nicht verschweigen. War es in jungen
Jahren zunächst das deutsche und böhmische Lied, das ich musikalisch
aufgriff, so kam es später, vor allem durch das Beispiel Bart6k, zu
einem Ausgreifen auf globale Weite, das manche Spuren in meiner
künstlerischen Arbeit hinterlassen hat. Legitim erschien es mir
zeitlebens, von dem reich tradierten Material nicht nur forschend,
sondern auch komponierend, oft auch mit alten Mitteln Neues erfindend,
Gebrauch zu machen. Ich betone das, weil ich zu den Leuten gehöre, die
das Wort "Tradition" noch achten; dies allerdings ganz im Sinne
Strawinskys. Er sagt: "Die Tradition ist etwas ganz anderes als eine
Gewohnheit.... ein bewußt Erworbenes, das die Tendenz hat, mechanisch zu
werden. Die wahre Tradition ist nicht Zeuge einer abgeschlossenen
Vergangenheit; sie ist lebendige Kraft, die die Gegenwart anregt und
belehrt." In diesem Sinne war und ist mir Igor Strawinsky stets Vorbild
geblieben, so sehr mich Werk und Person eines Paul Hindemith, Bela
Bart6k, später eines Alban Berg und Anton Webern angesprochen, ja
fasziniert haben. Webern in besonderem Maße, nicht etwa, weil ich diesem
vereinsamten Mann noch in seinen letzten Lebensmonaten in Mittersill
wiederholt begegnet bin, vielmehr, weil er, wie ich glaube, ein neues
musikalisches Denken provoziert hat. Provocare heißt hervorlocken,
hervorrufen; wir stehen heute mitten in einem Prozeß fortwährender
Provokation: Umschichtungen, Wandlungen unverrückbar geglaubter
Grundsätze, fundamentale Veränderungen unseres Denkens. Sie alle gehen
den Künstler zutiefst an. Der Künstler, "stellvertretend für die
Gesellschaft" (Kokoschka), kann sich diesen Provokationen gar nicht
entziehen. Einer späteren Generation wird es vorbehalten sein zu
entscheiden, was an wirklich Neuem seit den Tagen Weberns ans Licht
getreten ist. Mir selbst liegt allerdings kaum daran, mich als
Spiegelfechter ewig-junger Avantgarde oder wohlgezielter Provokation zu
üben, ebenso wenig, dem Publikum "Gefälliges" anzubieten, mich etwa
jeweiliger Mode oder jeweiligem Geschmack anzubiedern. Ich wollte immer,
daß meine Musik "klingt" und dem jeweiligen Hörer, gleich ob im Konzert,
in der Kirche, in Schule und Haus Freude bzw. Eindruck macht; das gilt
ganz besonders für den ausführenden Spieler. Diese, für meine einstigen
Lehrer Joseph Haas und Paul Hindemith typischen Grundsätze, sind, bei
aller Hinwendung in neue und auch umfassendere Hörbereiche, bis zur
Stunde dennoch auch die meinigen geblieben.
Cesar Bresgen
Im September 1982 |